Mittwoch, 4. Mai 2016

Arthur Schnitzler "Traumnovelle" [Rezension]

"Im Grunde ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war."

Sigmund Freud in einem Brief an Arthur Schnitzler

In seiner "Traumnovelle" erzählt Schnitzler vom Ehepaar Fridolin und Albertine im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts: Unter der harmonischen, liebevollen Oberfläche des Paars brodelt die freudsche Triebunterdrückung. - Der eine oder andere mag die Geschichte auch aus der Stanley Kubrick Verilmung "Eyes wide shut" (1999) kennen.

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Die Handlung beginnt mit dem Eingeständnis der beiden Eheleute im letzten Urlaub mit dem Gedanken der Untreue gespielt zu haben. Noch ehe die durch diese Nachricht hervorgerufenen Unstimmigkeiten ausgesprochen werden können, wird Fridolin zu einem Patienten gerufen. Doch die unausgesprochenen erotische Abendteuerlust der beiden schraubt sich in bacchantische, tiefenpsychologische Gruften.

Lockende Abenteuer in Wunsch und Wirklichkeit, erotische Träume und nymphische Versuchungen werden zur Herausforderung und zum Pulverfass der eigentlich glücklichen Zweiergemeinschaft:

Albertine, die Frauenrolle ihrer Zeit erfüllend, hat jung und jungfräulich geheiratet, sich nie ausgelebt und von der Gesellschaft sexuell unterdrücken lassen. Dafür bestraft sie ihren Mann stellvertretend und unbewusst in ihre Träumen und rächt sich damit für den ihr abverlangten Triebverzicht.

Auch Fridolin erfüllt seine Rolle: Als Arzt bettet er Frau und Kind in ein sorgloses Leben und bemerkt nicht, welche Opfer er, der sich vor der Ehe ausgelebt hat, von seiner Frau annimmt. Ihre Untreugedanken verstören ihn und treiben ihn physisch und psychisch weg von seiner Frau in eine Wiener Karnevalsnacht.

Schnitzler erzählt von Entfremdung und Paarselbstfindung zwischen Liebe zum Partner und Leidenschaft für verbotene Früchte meisterhaft und tiefgründig. 

Interessanterweise zeigt Schnitzler hier, ohne die Rollenverteilung des ausgehenden Fin de Siècle in Frage zu stellen, eine wesentlich gleichberechtigter Beziehung und sehr viel mehr Augenhöhe als viele moderne Paargeschichten.


Was mir persönlich sehr gefallen hat, ist sein lebensnahes Bild einer Ehe: Liebevoll und mit Problemen, die immer wieder aussortiert werden müssen. Und eine Suche nach dem Sinn der Liebe, wenn die Leidenschaft anderweitig lockt! Anders als Liebesgeschichten die entweder mit der Schmetterlinge-im-Bauch Phase beginnen und dem  Happy End enden oder die mit der Idylle beginnen und diese dann schreddern, macht dieses Buch einem vollkommen unintendiert Lust auf die Ewigkeit mit dem einem Menschen - und gleichzeitig klar, dass wir das in uns drinnen erarbeiten müssen!

"Er hörte den gleichmäßig-ruhigen Atem Albertines und sah die Umrisse ihres Kopfes sich auf dem weichen Polster abzeichnen. Ein Gefühl von Zärtlichkeit, ja Geborgenheit, wie er es nicht erwartet, durchdrang sein Herz. Und er nahm sich vor, ihr bald, vielleicht morgen schon, die Geschichte der vergangenen Nacht zu erzählen, doch so,  als wäre alles was er erlebt ein Traum gewesen - und dann, wenn sie die ganze Nichtigkeit seiner Abendteuer gefühlt und erkannt hatte, wollte er ihr gestehen, dass sie Wirklichkeit gewesen waren. Wirklichkeit? fragte er sich..."

Schnitzler, Traumnovelle, S. 91

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